25 Milliarden Deutsche Mark beschaffte die “Kommerzielle Koordinierung”, kurz KoKo, unter der Leitung von Alexander Schalck-Golodkowski im Westen für die DDR, finanzierte mit teils illegalen Geschäften Luxusgüter für die SED-Führung. Wie beschaffte die KoKo, wie sie genannt wird, all diese Devisen? Wer arbeitete für sie? Welche westliche Firmen hingen mit drin und wusste gar die bundesdeutsche Regierung Bescheid?
Viele dieser Fragen wären ohne Ingrid Köppe bis heute unbeantwortet. Fast drei Jahre lang beschäftigte sich ab Juni 1991 ein Untersuchungsausschuss mit der KoKo. 189mal trafen sich die Abgeordneten . Sie stellten fest, dass die KoKo ohne westliche Unterstützung niemals so erfolgreich hätte arbeiten können. Doch statt dieser Frage nachzugehen, schrieben die Abgeordneten, so etwas müsse ein neuer Untersuchungsausschuss klären. Sie bestätigten sich gar selbst: Das Gremium habe seinen Auftrag „weitgehend erfüllt“.
Vor allem Ingrid Köppe war mit der halbgaren Aufklärung nicht zufrieden. Die junge Grünen-Abgeordnete fertigte damals einen eigenen Bericht und beschrieb dort den plausiblen Verdacht, der Westen habe von der KoKo gewusst. Köppes Bericht wurde nie veröffentlicht. Stattdessen verschwanden die Akten inklusive Anhang sofort in der Geheimschutzstelle des Bundestages. Gegen Köppe wurde eine Ermittlungsverfahren eingeleitet.
“Ich habe einen Großteil meiner Bonner Zeit mit dem Lesen der Akten verbracht”, sagt Köppe im Gespräch mit uns. “Sehr erstaunt hat mich, dass die anderen Abgeordneten im Ausschuss das in diesem Umfang nicht taten. Anscheinend hielten die das für nicht so wichtig. Daran krankte dann eben auch die Arbeit im Ausschuss. Viele Abgeordnete wussten schlicht nicht, um was es ging.”
Heute liegt der Bericht in der Geheimschutzstelle des Bundestages. Wir haben den Bericht über Umwege trotzdem besorgt und veröffentlicht. Doch der Reihe nach.
Alexander Schalck-Golodkowski war der Milliarden-Mann der KoKo, er hatte den Masterplan zur Geldbeschaffung ausgeheckt und ausgeführt. 1991 gab Schalck-Golodkowski der ARD-Sendung “Brennpunkt” ein Interview. Der Grünen-Bundestagsabgeordnete und DDR-Bürgerrechtler Konrad Weiß saß vor dem Fernseher und forderte danach Aufklärung über die Koko durch den Bundestag.
Der Bundestag setzte den Untersuchungsausschuss am 6. Juni 1991 auf Antrag der SPD-Fraktion ein. Noch vor dem Antrag der SPD hatten die Grünen einen eigenen Einsetzungsantrag eingereicht. Ähnlich uneins blieb die Arbeit im Ausschuss die kommenden drei Jahre.
Was wusste Regierung schon vor dem Fall der Mauer über den internationalen Waffenhandel von Alexander Schalck-Golodkowski und seiner KoKo? Das sollte der Ausschuss klären. Die Grünen vermuteten in ihrem Antrag außerdem, dass die Regierung Kohl eine Aufklärung über die KoKo absichtlich behindere. Der Bundestag lehnte den Grünen-Antrag schließlich ab.
Drei Jahre später ist der Abschlussbericht, Drucksache 12/7600, mehrere tausend Seiten stark. Auf Seite 486 heißt es, die Kenntnisse der Bundesregierung über die KoKo seien zwar abgefragt worden, jedoch kein eigenständiges Untersuchungsthema gewesen. „Es könnte daran gedacht werden, bei Einsetzung eines neuen Untersuchungsausschusses eine weitere Klärung dieses Themas einzubeziehen.“ Thema erledigt.
Ingrid Köppe saß damals als junge Abgeordnete für die Bundestagsgruppe Bündnis 90/die Grünen in eben diesem Untersuchungsausschuss. Sie reichte einen eigenen, abweichenden Bericht ein; gegen die Mehrheit von SPD, FDP und CDU/CSU. “Dass ich das Aktenstudium in der Ausschussarbeit ernst genommen habe, hat auch mit meinem Selbstverständnis zu tun: Wir hatten einen parlamentarischen Auftrag, dieses Firmen-und-Geheimdienst-Geflecht zu untersuchen und wenn man so eine Arbeit macht, dann muss man die auch ordentlich machen; die vorhandenen Akten zu lesen ist dafür die Grundvoraussetzung.”
Im Gegen-den-Strom-Schwimmen hatte die studierte Bibliothekarin bereits damals Erfahrung. Schon ihr erstes Studium an der Pädagogischen Hochschule in Güstrow bricht sie nach einem Jahr ab. Sie will der Stasi nicht den Gefallen tun, der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann zuzustimmen.
Im Schalck-Ausschuss ist Köppe die fleißigste, arbeitet sich durch die meisten Akten. “Ich war die einzige Vertreterin der Abgeordnetengruppe Bündnis 90/Grüne im Ausschuss; die Fraktionen der SPD, CDU und FDP hatten mehrere Abgeordnete im Ausschuss; ich war alleine und habe gemeinsam mit einem Mitarbeiter das Aktenstudium bewältigt.” Ihren abweichenden Bericht begründet sie mit den Worten, dass die Fraktion der Grünen mit den entscheidenden Fragen nicht auf einen neuen Ausschsus warten wolle.
Der gut 160 Seiten lange Köppe-Bericht erregte Aufsehen: Die BRD scheint von der KoKo gewusst zu haben. Das legen zumindest Unterlagen des Bundesnachrichtendienstes (BND) und des Verfassungsschutzes nahe. Ingrid Köppe wies damals darauf hin, dass der Bericht wegen der schmalen Aktenlage „nur einige wenige exemplarische Bereiche darstellen“ könne.
Obwohl die junge Abgeordnete nur einen kleinen Ausschnitt darstellen konnte, wurde das Dokument sofort nach Erscheinen als Geheimsache eingestuft. Köppe ärgert sich, dass sich die Ausschussmehrheit einseitig mit der Ostseite der Devisenbeschaffung befasst habe. Die Verstrickung westlicher Firmen und Geheimdienste hätten die Abgeordneten einfach ignoriert. “Mein Abschlussbericht wurde vom Ausschuss nicht zur Kenntnis genommen, sondern als „geheim“ eingestuft. Mit solchen Maßnahmen versuchte man auf Zeit zu spielen, in der Hoffnung, dass sich irgendwann niemand mehr fürs Thema interessiert.“
Seither liegt der Bericht in der Geheimschutzstelle des Bundestages in der Berliner Schadowstraße. Gebracht hat die Geheimhaltung nichts. Mehrere Zeitungen druckten Auszüge aus dem Bericht. Im Internet ist er noch immer auf verschiedenen Plattformen als Scan abzurufen, samt geheimer Anlagen.
Drei Jahre lang hatte sich der Untersuchungsausschuss immer wieder um die heikle Frage herumgewurschtelt, ob und was die Bundesregierung vom Treiben Schalck-Golodkowskis und seiner KoKo gewusst haben könnte. Die geheimen Informationen aus dem Köppe-Bericht ließen jetzt vermuten, dass der Westen zumindest in Teilen über die Geschäfte informiert war. Zum Beispiel im Fall des Überläufers Horst Schuster.
Schuster war von 1973 bis 1981 Hauptgeschäftsführer der KoKo-Firma Kunst und Antiquitäten GmbH (KuA). Die KuA stellte ein „besonders krasses Beispiel für die Abhängigkeit des Bereiches KoKo von der westlichen Abnehmerschaft“ dar, schrieb Ingrid Köppe in ihrem Bericht. Kunstsammler in der DDR wurden enteignet, die Kunstwerke gegen westliche Devisen eingetauscht. Das ging nur, weil westliche Händler an diesen Geschäften interessiert waren. Über die Hälfte der Abnehmer saßen damals in der Bundesrepublik, schrieb Köppe.
Schuster lief 1983 in die Bundesrepublik über. Dem BND beschrieb er die Systematik des Embargohandels sowie die Lieferanten. Dank Schuster wusste der BND zum Beispiel, dass Siemens der Stasi 1970 eine „Großdatenverarbeitungsanlage“ geliefert hatte. Schuster erzählte noch mehr, zum Beispiel vom Interesse der DDR an Gewehren des Waffenherstellers Heckler & Koch aus Baden-Württemberg.
Der BND nahm Schuster als Quelle durchaus ernst. Einen Bericht mit Schusters Aussagen schickte der BND unter anderem dem damaligen regierenden Bürgermeister von Berlin, Richard von Weizsäcker, und dem bayerischen Ministerpräsidenten Franz-Josef Strauß. Köppe kritisierte, dass trotzdem niemand etwas gegen den eigentlich verbotenen Handel mit der DDR unternahm.
Dem Untersuchungsausschuss blieb die Einsicht in die BND-Gesprächsprotokolle zunächst verwehrt – aus „Quellenschutzgründen“. Einen Tag vor dem Ende der Zeugenvernehmung stehen Ende 1993 plötzlich doch die gut drei Dutzend Ordner zur Verfügung. Ein Versehen. Eigentlich wollte die Bundesanwaltschaft dem Ausschuss nur die Vernehmungsprotokolle Schalck-Golodkowskis geben.
Köppe nutzte die Chance und pflügte sich durch die Gespräche zwischen Schuster und dem BND und fand die entscheidenden Beweise für das schon immer Vermutete.
Für die Abgeordnete war klar: Die Bundesregierung hatte Anfang der Achtziger Jahre nicht nur die entscheidenden Personen des Bereichs KoKo gekannt, sondern auch die wichtigsten Handelspartner in Westdeutschland. Außerdem muss die Regierung Köppe zufolge eine Reihe von inoffiziellen Mitarbeitern gekannt haben, die zur sogenannten Hauptabteilung Aufklärung (HVA) des Ministeriums für Staatssicherheit gehörten und in der Bundesrepublik spionierten.
Am 23. Juni 1994 besprach der Deutsche Bundestag in seiner 235. Sitzung das Ergebnis des Schalck-Ausschusses. Ingrid Köppe warf dabei den Bundesregierungen Brandt, Schmidt und Kohl Versagen vor. Sie seien heimliche Mitwisser der durch die Embargogeschäfte begangenen Gesetzesverstöße gewesen, ihre Haltung eine Chronologie des Wegschauens. Das alles habe die KoKo und die marode DDR stark begünstigt.
Gedankt wurde Ingrid Köppe ihr Einsatz für die Wahrheit nicht. Weil sie den geheimen BND-Bericht veröffentlicht hatte, durchsuchte der Berliner Staatsschutz im März 1995 erstmals ihre Wohnung. Eine zweite Hausdurchsuchung folgte im September, diesmal durch die Staatsanwaltschaft Bonn. Ein paar Monate später stellt diese das Verfahren ein. Man habe Köppe nicht nachweisen können, den als geheim eingestuften Bericht an die Medien lanciert zu haben, lautet die offizielle Begründung.
Noch während die Ermittlungen laufen will Bundespräsident Roman Herzog ihr den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland verleihen.. Ingrid Köppe sollte als eine der Personen ausgezeichnet werden, die in der DDR-Bürgerbewegung die Wende herbeigeführt hatten. Köppe nimmt die Auszeichnung nicht an. In einem offenen Brief schreibt sie an Herzog, es sei doch sehr verwunderlich, dass ein Staat sie als Straftäterin verdächtigt und zugleich der höchste Repräsentant desselben Staates ihr einen Verdienstorden verleihen will.
Noch härter trifft sie, dass die politische Entwicklung in den Jahren nach der Wende mit den Anliegen der Bürgerbewegung nichts mehr gemein hat. Köppe hatte sich früh im Oppositionsbündnis Neues Forum engagiert und im September 1990 wenige Wochen vor der Wiedervereinigung das Stasi-Archiv besetzt, gemeinsam mit den Bürgerrechtlerinnen Bärbel Bohley und Katja Havemann. Damit hatte sie dafür gesorgt, das wichtige Akten in Berlin bleiben und unabhängig kontrolliert werden. Jahre später fehlen ihr jedoch Transparenz und Aufarbeitung. Köppe, die ohnehin nie Berufspolitikerin werden wollte, will nicht mehr.
Nach nur vier Jahren im Deutschen Bundestag zieht sie sich 1994 aus der Politik zurück. Mit 37 Jahren geht sie einer neue Herausforderung nach und studiert Jura an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Köppe wollte immer ein Studium beginnen, und damit das nachholen, was sie zu DDR-Zeiten nicht machen konnte. “Ich wollte Recht verstehen
und es anwenden lernen und mir mit diesem Studium eine eigene berufliche Existenz aufbauen.“
Heute ist sie Rechtsanwältin und lebt im brandenburgischen Wriezen. Abseits der Hauptstadt – und der Bundespolitik. “Es war gut, dass ich intensive Erfahrungen in der Politik und im Bundestag gesammelt habe. Aber es ist noch viel besser, dass ich mich danach für etwas anderes entschieden und das dann auch gemacht habe.”
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