Frage: Herr Vaatz, warum muss man über die Staatssicherheit der ehemaligen DDR auch 20 Jahre nach dem Fall der Mauer noch reden?
Antwort: Weil es ein Thema ist, das noch offen geblieben ist. Denn wir haben ja gesehen, dass auch in den letzten Jahren Dinge ans Licht kamen, die man so nicht geahnt hatte. Zum Beispiel dass der Polizist Kurras, der den Studenten Ohnesorg erschossen hat, ein Stasi-Mann war. Es ist ein absolut legitimes Interesse, die Geschichte des eigenen Landes so zu erfahren, wie sie gewesen ist und auch die handelnden Personen zu erkennen. Welche Motive hatten sie? Wer hat sie bezahlt und angewiesen? Es ist auch eine Frage der Glaubwürdigkeit der Demokratie. Sie muss solchen Nachprüfungen standhalten können. Sie darf sich ihr nicht entziehen. Das ist die wichtigste Lektion überhaupt aus diesem Jahrhundert. Die Aufarbeitung der beiden deutschen Diktaturen ist ein konstitutives Merkmal der BRD. Es kann nicht sein, dass eine selektive Herangehensweise dazu führt, dass ganze Bereiche von offenen Fragen ausgeblendet bleiben. Das ist der Kern meiner Forderung.
Wenn eine Demokratie so etwas aushalten muss, warum wurde dann im Jahr 2009 der Antrag der FDP auf Überprüfung der Abgeordneten des Bundestages auf Stasi-Tätigkeiten abgelehnt?
Wir hatten uns mit solchen Anträgen ja schon öfter befasst. Man kann einen solchen Antrag zwar beschließen, es gibt aber keine Möglichkeit die Abgeordneten zu zwingen sich überprüfen zu lassen. Es ist auf den FDP-Antrag aber etwas sehr wichtiges geschehen: Der Bundespräsident hatte signalisiert die Birthler-Behörde zu bitten, eine Untersuchung der vergangenen Bundestage durchzuführen. Das ist im Wesentlichen die Prozedur, die Frau Birthler ja schon einmal mit dem Bundestag vollzogen hat, der beim von der Stasi gekauften Misstrauensvotum gegen Willy Brandt im Amt war. Der Bundestag ist das wichtige Herzstück unserer Demokratie, aber Deutschland ist größer. Es gibt die verschiedenste Organisation, Parteien und Verbände wo sich durchaus noch die Frage stellt, wo die Stasi da hineingewirkt hat. Deutschland war in einem Maße unterwandert, wie es kaum vorstellbar ist. Daran besteht kein zweifel. Wenn die Stasi tatsächlich einen Topspion im vertrautesten Umfeld des Bundeskanzlers zu positionieren vermochte, dann kann ich nur sagen, dass ich mir eine stärkere Unterwanderung kaum vorstellen kann.
Die Staatssicherheit hat auch Terroristen ausgebildet. Terroristen, die in der BRD Menschenleben auf dem Gewissen hatten, nahm die Stasi bei sich unter fremden Namen auf und ermöglichte ihnen die Ausbildung im mittleren Osten. Es ist meines Erachtens deswegen nicht statthaft einfach zur Tagesordnung überzugehen und einer Überprüfung der Stasi-Tätigkeiten im Westen halbherzig oder gar nicht nachzugehen. Das ist einer meiner wesentlichen Kritikpunkte an der Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen. Ich kenne zwar die Aktenlage nicht genau. Aber andererseits bin ich mir auch nicht sicher, worin das Interesse des zweiten Mannes in der Behörde unter Marianne Birthler, Hans Altendorf, liegen soll, eine Unterwanderung durch die Stasi im Westen offenzulegen. In einer bestimmten Phase seines Lebens gehörte er einer Gruppierung an, die sehr intensive Beziehungen zu östlichen Institutionen unterhalten hat.
Ganz offensichtlich sahen die über die Tatsache hinweg, dass diese Institutionen staatlich gelenkt waren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er aus der Sicht seiner eigenen Biographie ein besonderes Interesse an der Aufarbeitung der Stasi besonders interessiert ist. Ich habe in die Personalstruktur der Behörde kein Vertrauen. Mehrere Personen, die sich mit diesem Thema befasst haben, sind nicht mehr in der Behörde, weil sie entweder versetzt wurden oder frustriert sind. Dazu zählt auch Hubertus Knabe. Es ist an der Zeit, dass die Behörde sich endlich intensiver der Frage nach der Stasi im Westen widmet. Unter der neuen Leitung der Behörde wird das vielleicht der Fall sein.
An welche Institutionen denken Sie bei einer eventuellen Überprüfung hinsichtlich der Stasi-Mitarbeit?
Das kann ich nicht sagen, weil ich die Aktenlage nicht kennen kann. Dazu haben wir die Behörde und die müsste dazu etwas sagen. Es gibt aber einfach den Analogieschluss. Was hat die Stasi im Osten gemacht? Sie war in den Kirchen, in den Blockparteien und an den Universitäten intensiv tätig. Solche Institutionen gab es auch im Westen. Also stellt sich die Frage, ob die Stasi versucht hat, auch im Westen in diese Institutionen einzutreten. Der Frage muss nachgegangen werden. Eine Sache ist mir dabei ganz besonders wichtig: Ich habe als Minister in Sachsen viele Fälle auf dem Tisch liegen gehabt von Personen, die nach einer Überprüfung durch die Gauck-Behörde als Stasi-belastet eingestuft worden sind. Und einigen von denen musste ich sagen, dass sie für den öffentlichen Dienst nicht mehr geeignet sind.
Von vielen Betroffenen kam daraufhin der Vorwurf, wir täten das nur, weil sie Ostdeutsche oder ehemalige DDR-Bürger seien. Ich entgegnete jeweils, dass auch Personen aus Westdeutschland derselben Überprüfung unterzogen werden. Weil ich dieses Versprechen gegeben habe, will ich auch dafür sorgen, dass es eingelöst wird. Derzeit kann ich noch nicht behaupten, dass alles versucht wurde um die Stasi-Tätigkeiten im Westen aufzuklären. Ein Betätigungsfeld für die Stasi im Westen wären sicherlich die Kirchen und Universitäten gewesen. Etwas staatsfernere Bereiche und gleichwohl wichtige Faktoren für die öffentliche Meinungsbildung. Der Sache muss nachgegangen werden.
Was glauben Sie wird sich unter dem neuen Leiter der Behörde, Roland Jahn, ändern?
Ich habe große Hoffnung und glaube, dass er dieser Frage gegenüber aufgeschlossen ist.
Sie haben die schleppende Aufarbeitung der Akten durch die Birthler-Behörde bereits angesprochen. Wäre es vielleicht sinnvoller, die Stasi-Akten zukünftig ins Bundesarchiv zu überführen?
Die Stasi-Akten haben Charakteristiken, die sie von anderen Akten unterscheiden. Und die auch einen anderen Umgang mit ihnen erfordern. Insbesondere handelt es sich um Akten, die nicht schon so alt sind, dass es keine persönlich Betroffenheit mehr gibt. Es sind Akten, deren Inhalte noch heute tief in das Leben von Menschen einwirken können. Aus dem Grund braucht man eine besondere Herangehensweise. Wir müssen aber auch darüber nachdenken, in welchem endgültigen Zustand die Akten aufbewahrt werden sollen. Solange es die hoheitliche Aufgabe der sogenannten Regelüberprüfung gibt, halte ich es für gerechtfertigt, dass eine extra eingerichtete Behörde diese Prüfung vollzieht.
Das ist eine Aufgabe, die fast mit der eines Richters vergleichbar ist. Wenn aber diese Regelüberprüfung nicht mehr stattfindet, wenn sie nicht mehr möglich ist, dann halte ich es für notwendig, dass wir uns Gedanken machen, wie die Akten ins Bundesarchiv eingegliedert werden können. Möglicherweise muss dann Archiv-Gesetz etwas geändert werden. Aber eine eigene Institution, die für die Einsichtnahme in die Akten zuständig ist, halte ich dann nicht mehr für notwendig. Ich widerspreche auch dem Gedanken, dass die Gauck-Behörde eine Art Symbol der friedlichen Revolution wäre.
Das Vermächtnis der friedlichen Revolution in Ostdeutschland sind die Freiheit, die Demokratie und die Einheit Deutschlands. Aber keine Behörde. Wenn die Akten ins Bundesarchiv eingegliedert würden, wäre es auch nicht notwendig, die Akten woanders hin zu transportieren. Sie müssten für Wissenschaftler, Journalisten und interessierten Bürger zukünftig genauso zugänglich sein, wie das heute der Fall ist.
Wie hat man die Stasi als DDR-Bürger eigentlich wahrgenommen?
Man hatte keine bestimmte Kenntnis, was die Staatssicherheit eigentlich war – wenn man nicht bestimmte Kontakte zur ihr hatte. Die konnten so aussehen, dass sie in einer inoffiziellen Tätigkeit bestanden. Und sie konnten so aussehen, dass die Stasi sich einen vorknöpfte. In letzterer Lage bin ich zum Beispiel gewesen. Da hat man Personen gesehen, die man vorher nicht kannte. Die haben sich einem vorgestellt mit einem Dienstausweis, der an einer kette am Jackett befestigt war. Den zogen sie raus und wiesen sich so aus und stellten einem Fragen. Und bei jeder Frage bin ich persönlich so einen innerlichen Katalog durchgegangen. Das erste ist: “Weiß ich nicht”, “Kenn ich nicht”, “Habe ich nichts von gehört” und “ich kann mich nicht erinnern”. Eine ganz wichtige Aussage, die einem niemand beweisen kann. Wenn man aber gemerkt hat, dass die eh schon alles wissen, hat man versucht denen in etwa zu erzählen, was sie ohnehin schon wussten.
Bei solchen Gesprächen ist immer deutlich geworden, dass sie sehr viel wissen. Und das ließ darauf schließen, dass es einen umfangreichen Apparat gegeben haben muss, der im engsten Umfeld eines jeden funktionstüchtig war. Man hat von jedem Brief annehmen müssen, dass er geöffnet und gelesen worden ist. Man hat von jedem Telefongespräch annehmen müssen, dass es mitgehört wird und hat sich entsprechend verhalten: Wenig Angriffsfläche, wenig Information. Wenig über diese Wege zu sagen und alles sonst im persönlichen Gespräch klären.
Eine Zeit lang stand ich unter Rundumbewachung. Bei diesen Beschattungen soll man merken, dass die Stasi einen verfolgt. Die haben sich gar keine Mühe gegeben, sich zu verstecken. das waren immer dieselben Leute, die vor der Tür standen. Man ging mit deren Gefolgschaft einkaufen, sie stellten sich demonstrativ hinter einem in die Reihe und kauften dann eine Schachtel Streichhölzer, für die sie eine Viertelstunde eingestanden hatten. Das ist die Stasi gewesen.
Ich war eine Zeit lang inhaftiert in einem Gefängnis in Unterwellenborn, auf dem Gelände der Maxhütte. In dem Stahlwerk musste man auch arbeiten. Dort wurde ich vor den dortigen Stasi-Offizier zitiert. Der stellte sich bei mir vor und hatte ganz offensichtlich die Absicht, mich zur Ausreise zu überreden, was ich abgelehnt habe. Auch diese Dimension hat die Stasi abgedeckt: Missliebige Personen sollen aus dem Land verschwinden. So war die Stasi.
Wir haben im Herbst 1989 so lange nicht das Gefühl gehabt, dass die Dinge tatsächlich umkehrbar sind, solange wir noch wussten, dass das Ministerium für Staatssicherheit arbeitet. Deshalb hat sich für uns die frage gestellt, wie wir der SED ihr wichtigstes Instrument entnehmen können. Die Stasi war das Instrument, vor dem sich alle anderen Instrumente fürchteten. Selbst der Linientreuste Offizier bekam Schweißperlen auf der Stirn, wenn ein Stasioffizier das Gelände betrat. Demzufolge konnte man überhaupt nicht davon reden, dass alles erreicht sei, solange die Stasi noch die Möglichkeit eines Gegenschlags hatte.
Arnold Vaatz, geboren 1955 im thüringischen Weida, studierte nach dem Abitur 1974 Mathematik in Dresden. Ab 1981 arbeitete er im volkseigenen Betrieb Komplette Chemieanlagen Dresden (KCA) bis er 1982 zu sechs Monaten Haft in der Strafvollzugseinrichtung Unterwellenborn und dem dortigen ehemaligen Stahlwerk Maxhütte verurteilt wurde. Der Grund: Vaatz hatte den Reservewehrdienst verweigert.
1989 trat er in das Oppositionsbündnis „Neues Forum“ ein, zuvor hatte er sich bei der „Gruppe der 20” in Dresden engagiert.
1990 Eintritt in die CDU, im selben Jahr wird er stellvertretender Regierungsbeauftragter für den Bezirk Dresden und Vorsitzender des Koordinierungsausschusses zur Bildung des Landes Sachsen. Bis 1991 war Vaatz Chef der Sächsischen Staatskanzlei und von 1992 an sechs Jahre lang sächsischer Staatsminister für Umwelt und Landesentwicklung.
Seit 1998 gehört er dem Deutschen Bundestag an und ist seit 2002 stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion.
Vaatz ist verheiratet und hat vier Kinder.
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