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"Die Schatzkammer der Stasi"

Betriebsgeheimnisse aus dem Westen hielten die DDR-Wirtschaft am Laufen. Welches Ausmaß die Industriespionage hatte, wird erst langsam klar. Ein Interview mit Aufklärer Helmut Müller-Enbergs.

das Interview führte Stephan Mündges

Frage: Herr Müller-Enbergs, vor über zwanzig Jahren wurde die Mauer eingerissen. Warum sollen wir uns nach so langer Zeit immer noch mit den Stasi-Akten beschäftigen?

Antwort: Wer nicht weiß, was damals gelaufen ist, der weiß nicht, wovor er sich in Zukunft schützen muss. Wir wollen nie wieder einen Sozialismus Marke DDR oder einen Nationalsozialismus Marke Hitler. Und deshalb ist die Auseinandersetzung mit den Stasi-Unterlagen gewissermaßen ein Stachel gegen das Vergessen.

Viele Jahre hat man sich vor allem mit der Arbeit der Stasi innerhalb der DDR beschäftigt. In den letzten Jahren sind aber immer mehr Details der Stasi-Arbeit im Westen bekannt geworden. Kann man abschätzen, wie intensiv die Bespitzelung in Westdeutschland war?

Zuletzt waren 189.000 inoffizielle Mitarbeiter (IM) für die Stasi aktiv. Davon waren 3000 Bundesbürger. Insofern ist es naheliegend, sich hauptsächlich mit den IMs in der DDR zu beschäftigen, aber die IMs in der Bundesrepublik sind genauso spannend. Das Interesse an der Spionage in der BRD ist verdammt groß, aber das Bedürfnis an Aufklärung ist noch nicht gestillt.

Es ist bekannt, dass die Stasi viele politische Organisationen und Parteien infiltriert hat. Aber auch in Unternehmen war die Stasi stark vertreten.

Es gibt eine Reihe von Untersuchungen über die sogenannte Wissenschaft- und Technikspionage, was man heute für gewöhnlich Industriespionage nennen würde. Diese Art der Spionage war bei der Stasi dreiarmig aufgebaut: An erster Stelle stand die für die Auslandsspionage zuständige Hauptverwaltung Aufklärung (HV A). Dann gab es die Hauptabteilung 18, die eigentlich die Volkswirtschaft der DDR schützen sollte. Und der dritte Arm ist der Bereich Kommerzielle Koordinierung, recht bekannt durch den Chef dieser Truppe, Alexander Schalck-Golodkowski. Den größten Umfang dieser nachrichtendienstlichen Arbeit hatte die HV A. Die hatte einen eigenen Sektor für die Industriespionage den sogenannten Sektor „Wissenschaft und Technik“. Der war innerhalb der Auslandsspionage der größte Bereich.

Was genau hat dieser Sektor gemacht?

Ganz praktisch funktionierte das so: Ein Kombinat in der DDR braucht bestimmtes Wissen, um den technologischen Rückstand gegenüber dem Westen zu verkürzen. Deshalb wendet es sich über das entsprechende Fachministerium an die Stasi. Die beauftragte wiederum ihre Agenten im Bundesgebiet, zum Beispiel den IM „Baron“. Solche Inoffiziellen Mitarbeiter besorgten letztlich aufgrund der Bestellung die Informationen, die in der DDR „umgesetzt“ werden sollten. Die Informationen gingen aber nicht nur an die DDR, sondern auch an die osteuropäischen Bruderstaaten und natürlich die Sowjetunion. Die Bundesrepublik war damit der größte Quellenkatalog aller Zeiten.

Welches Ausmaß hatte diese Art der Spionage denn?

Zwei von fünf Agenten, die für die Stasi in der BRD tätig waren, waren mit Wissenschaft- und Technikspionage befasst. Das schließt aber auch die Agenten ein, die beispielsweise in Universitäten im Forschungsbereich tätig waren. Der Bereich Wissenschaft und Technik ist DAS Tätigkeitsfeld der Stasi in der Bundesrepublik Deutschland und in den USA.

Wie hat die Stasi so viele Spione im Westen unterbringen können?

Dafür gab es zwei Möglichkeiten: Die Stasi schickte zum Beispiel als Flüchtlinge getarnte Agenten in die BRD. Die bewarben sich dann nach und nach bei Unternehmen, von denen die Stasi Informationen bekommen wollte. Das ist eine langfristige, sehr gut geplante Strategie. Diese Agenten suchten sich auch eine Frau aus dem selben Konzern oder aus einem anderen Konzern, von dem man ebenfalls Informationen haben wollte. Die zweite Möglichkeit war es, Leute direkt anzuwerben. Entweder welche, die sich selbst anboten oder man rekrutierte sie, indem man beispielsweise vorgab, man sei vom Konkurrenzunternehmen. Auffällig dabei ist, wie platziert das Netz der Stasi war. Man interessierte sich nicht für Vorstandsvorsitzenden, sondern nur für die Bereiche, in denen wichtiger Informationsfluss stattfand, also die Ebene der Abteilungsleiter und Wissenschaftler. So hatte man jederzeit abrufbare Informationen. Ein ziemlich erfolgreiches System.

Lässt sich dieser Erfolg denn messen?

Hausintern wurde immer geprüft, ob eine bestimmte Aktion oder Investition Gewinn abwerfen würde. Wenn es keine Gewinnmarge gab, war das Projekt zu knicken. Ein Beispiel: Zwischen 1986 und 1989 wurden im Sektor Wissenschaft und Technik zwei Millionen D-Mark investiert. Wieder reingekommen sind nach den Stasi-Berechnungen 1,5 Milliarden Valuta-Mark. So einen Profit kann sich manches Unternehmen nur wünschen.

Welche Industriezweige waren besonders interessant für die Stasi?

Die Staatssicherheit hat Westdeutschland genau untersucht: Wer stellt welches Produkt her? Wo wird welches Verfahren entwickelt? Und nur die Unternehmen waren relevant, die etwas entwickelten, das die DDR auch gebrauchen konnte. Die Stasi hatte dafür drei Abteilungen geschaffen: eine für Atomenergie und Physik, die zweite für Raketentechnik, Biologie, Chemie und Landwirtschaft und die dritte für Schwermaschinen und die Rüstungsindustrie. Und auf deren Speisezetteln fand man alle großen Industrieschiffe der Bundesrepublik. An erster Stelle stand mit großem Abstand das Leckerland der Stasi: Siemens. Jeden Tag wurden allein aus dem Siemens-Konzern zwei Informationen an die Stasi geliefert.

Wie viel wurde denn in Nordrhein-Westfalen gespitzelt?

Zur Zeit der Wende war ein Viertel aller in Westdeutschland stationierten HV A-Agenten in NRW tätig. Denn dort, insbesondere im Ruhrgebiet, befindet sich ein wichtiger Komplex was Forschung, Produktion und Rüstung betrifft. In allen relevanten Unternehmen war die Stasi vertreten, dazu gehören große bekannte Namen, wie zum Beispiel Bayer oder kleinere und unbekanntere Firmen. Das Ruhrgebiet war damit die Schatzkammer der Stasi, dorthin wurden die meisten Agenten übersiedelt. Aber auch im Rheinland und in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn waren sehr viele Agenten unterwegs. NRW müsste sich eigentlich am ausführlichsten mit der DDR-Spionage auseinandersetzen. Denn das war so ein löchriger Käse, da konnten die in aller Ruhe spionieren ohne erwischt zu werden.

War es für die Stasi einfach so viele Agenten zu rekrutieren?

Im Gegenteil war das die größte Schwierigkeit für die Stasi: Leute zu finden, die genug Talent hatten, sich nicht zu enttarnen. Die Stasi tat deshalb einiges um ihre Leute auszubilden. Vor allem musste ein Agent schnell lernen das Wesentliche und vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Und er brauchte die Fähigkeit, unsichtbar zu sein. Den Sicherheitsbehörden durfte er schließlich nicht auffallen. Daher war zum Beispiel eine Mitgliedschaft bei der DKP gewiss nicht hilfreich, konservative Positionen halfen besser ins Ziel. So gab es dann auch Kommunisten, die von der Stasi angehalten wurden, sich als Konservative oder sogar Faschisten auszugeben. Und Agenten sollten auch noch preiswert sein – sie sollten die Arbeit möglichst aus ideologischen Gründen machen, nicht weil sie ihr Portmonee füllen wollten. Und mit dieser Vorgabe hatte die Stasi großen Erfolg: Mindestens 60 % ihrer Agenten in der BRD waren politische Idealisten. Alle anderen wollten Cash sehen und da war die Stasi nicht kleinlich. Wobei es bei der Bezahlung auch eine Zwei-Klassen-Gesellschaft: Im Osten bekam ein IM nicht viel, vielleicht eine Schachtel Pralinen. Im Westen ging das aber gleich in den vierstelligen Bereich. Außerdem muss ein Agent immer darauf achten, dass er selbst nicht ausspioniert wird. Deshalb musste immer geprüft werden, ob ein Freund oder guter Bekannter nicht ein herangespielter Kontakt eines anderen Nachrichtendienstes war. So etwas verändert Menschen natürlich: Man zieht sich eher zurück, ist misstrauisch. Das mussten die Agenten aber bei Seite schieben können, denn man brauchte ja Kontakte um an Informationen zu kommen.

Wie ist insgesamt die Aktenlage zu den Aktionen der Stasi in Westdeutschland?

Betrüblicherweise sind die meisten Akten der HV A, die für die Auslandsspionage zuständig war, vernichtet. Ursprünglich gab es mindestens 67.000 Vorgänge, die aus beliebig vielen Akten bestehen konnten. Davon erhalten geblieben sind gerade einmal 13.500.

Herr Müller-Enbergs, vielen Dank für das Gespräch.

Zur Person:

Dr. Helmut Müller-Enbergs ist Politologe und arbeitet seit 1992 für die Forschungsabteilung der Stasi-Unterlagenbehörde. Von 2003 bis 2005 war er Leiter der Forschungsgruppe „RosenholZ“. Er gilt als intimer Kenner der Stasi-Praktiken und der Spionage-Arbeit. Zusammen mit seiner Kollegin Cornelia Jabs enttarnte Müller-Enbergs den Westberliner Polizisten Karl-Heinz Kurras, der 1967 den Studenten Benno Ohnesorg erschossen hatte.

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