Die Politikspitzel

Spionage ohne Fortschritt

Terror, geheime Rüstungspläne, Computer: Die Westspione der Stasi hatten viel zu tun. Warum gibt es so wenige Berichte darüber? Vor allem Fachbücher haben sich damit beschäftigt.

von Daniel Drepper

400 Spione im Untergrund, 3500 ausgebildete Sprengstoffspezialisten und Einzelkämpfer: Die Terrorgruppen der DDR sollten im Ernstfall Angst und Schrecken verbreiten. Die Spione beobachteten jahrzehntelang das Operationsgebiet Bundesrepublik, blieben bis 1989 in Alarmbereitschaft. Selbst die Annäherungen der beiden deutschen Staaten störte die Stasi nicht bei ihren Planungen zur verdeckten Kriegsführung.

Nie davon gehört? Spannende Texte über Stasi-Spione im Westen, über geplante Attentate und Geheimnisverrat liest man selten. Aufgeklärt haben bislang vor allem Fachbüchern. Einen Sammelband haben Helmut Müller-Enbergs und Georg Herbstritt 2003 herausgegeben: „Das Gesicht dem Westen zu…“. Auflage: 2000 Exemplare. Einige Hundert Bücher sind nach Angaben des Verlages auch nach neun Jahren noch zu haben. Das Buch beschreibt die West-Aufklärung der DDR. Es geht um Wirtschafts- und Militär-Spionage, aber auch um Terrorstrategien.

„Man muss solche jungen Tschekisten heraussuchen […], dass man ihnen sagt, du gehst dorthin, den erschießt du dort im Feindesland. […] Der Auftrag, der gegeben wird, wird durchgeführt und selbst, wenn man dabei kaputt geht.“ Erich Mielke

Den Idealfall stellte sich die DDR-Führung Anfang der 70er Jahre so vor: Die deutsche Arbeiterklasse startet eine Revolution, unterstützt und geführt von der kommunistischen Partei. Die militärischen Einsatztruppen, bis dato im Verborgenen, schulen und führen freiwillige Kämpfer. Das war wohl etwas sehr optimistisch. Realistischer war dagegen zweite Szenario: Bei einem Einmarsch der sowjetischen Truppen sollten die Untergrundkämpfer die Brücken, Straßen, Telefon- und Stromnetze lahmlegen – und Panik auslösen. „Ganz Deutschland sollte eine große DDR werden.“, schreibt Thomas Auerbach in besagtem Sammelband. Die Stasi sollte „in den eroberten Gebieten ein Unterdrückungssystem nach dem Vorbild des SED-Regimes“ errichten. Die Verhaftungslisten für den Tag X lagen ständig bereit.

Liste mit 346 Zielobjekten

Erich MielkeErich Mielke

Vorbild für die DDR war der Vietcong. Um sich auf einen eigenen Angriff vorzubereiten, flogen einige Spione sogar nach Vietnam und trafen sich dort mit den dortigen Genossen.

Nicht nur im großen Ganzen, auch im Kleinen plante die DDR brutale Einsätze. Und führte sie durch. Häufig sind konkrete Einsätze nicht schriftlich festgehalten worden oder Unterlagen wurden 1989 vernichtet. Weisungen an die zuständige „Arbeitsgruppe des Ministers“ lassen aber keine Zweifel zu. „Das Liquidieren beinhaltet die physische Vernichtung von Einzelpersonen und Personengruppen. Erreichbar durch: das Erschießen, Erstechen, Verbrennen, Zersprengen, Strangulieren, Erschlagen, Vergiften, Ersticken“, zitiert Thomas Auerbach.

Wichtig für die DDR: das Verschleiern. Die Untergrundkämpfer sollten den Verdacht auf westdeutsche Terroristen lenken. So unterstützte die DDR auch die Untergrundorganisation der Deutschen Kommunistischen Partei. Die Arbeitsgruppe bildete neben den Mordkommandos auch Vernichtungsingenieure aus. Diese sollten Bahngleise oder Stromleitungen zerstören. In Wartin bei Angermünde lernten die Spezialkräfte technische Details, Aufbau und Funktion der Angriffsziele. 1981 standen 346 „zu bearbeitende Zielobjekte“ auf der Liste, darunter laut Auerbach acht Atomkraftwerke beziehungsweise kerntechnische Anlagen. Darunter auch die Anlage in Jülich bei Aachen.

Hohe Quellen im West-Militär

Einige Hunderte Leute spionierten ganz konkret im westdeutschen Militär. Die Militärspionage der DDR lief in enger Kooperation mit anderen Ostblockstaaten. Neben echter Aufklärung sollten die Informationen „auch das Feindbild der aggressiven Nato und der imperialistischen Bundesrepublik“ untermauern, wie Joachim Zöller schreibt.

Die DDR konnte tatsächlich einige hohe Quellen im westdeutschen Militär platzieren. So arbeitete die Quelle „Cherry“ ab 1987 bei der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik bei der NATO in Brüssel und lieferte harte Informationen, darunter „die Defizite der Luftverteidigung im Mittelabschnitt der Bundesrepublik“. Andere Quellen saßen im Verteidigungsministerium oder der Bundeswehr selbst.

Die DDR wusste viel über Planungen und Übungen von Bundeswehr und NATO. Dieses „umfassende Bild“ sei auch direkt an die Sowjetunion weitergeleitet worden, so Zöller. Allerdings übertrieben die Stasi und die Nationale Volksarmee bei ihren Meldungen gewaltig, um bei den DDR-Führungskadern das Bild des aggressiven Westens zu formen – und ihre Jobs zu sichern.

Helmut Müller-EnbergsHelmut Müller-Enbergs

Fast 5000 feste Mitarbeiter hatte die Hauptverwaltung A, der Auslandsgeheimdienst der DDR, Ende der 80er Jahre insgesamt. Begonnen hatten die Spione mit einer Handvoll Leute. Wie viele Agenten inoffiziell im Westen unterwegs waren, ist bis heute nicht geklärt. In jedem Fall waren es mehrere Tausend.

Helmut Müller-Enbergs glaubt, „dass die oftmals öffentlich genannten Schätzungen von 20, 30, 40 oder gar 50.000 Agenten des MfS in der Bundesrepublik eher als hoch gegriffen anzusehen sind.“ Beim Untergang der DDR habe die Stasi vor allem Westspione aus ihrer Kartei entfernt. Selbst durch Hochrechnungen könne man deshalb keine Gesamtzahl berechnen, schreibt Enbergs.

Mehr als die Hälfte der im Westen aktiven Stasi-Mitarbeiter waren echte Agenten, die Informationen lieferten. Ein weiteres Drittel stand für Hilfsarbeiten zur Verfügung, ein Sechstel war für die logistische Basis zuständig, als Deckadresse. Viele Mitarbeiter waren über lange Jahre tätig, schreibt Müller-Enbergs. Die Stasi warb besonders gerne Sekretärinnen, Studenten und Journalisten. Angeblich arbeiteten 60 Prozent der West-Spitzel aus Überzeugung für die Stasi.

Aufregung um Günter Guillaume

Günter GuillaumeGünter Guillaume

Für Aufregung sorgte die West-Spionage der DDR bislang vor allem, wenn politische Spione aufflogen wie der auf Willy Brandt angesetzte Günter Guillaume. Dabei war nur jeder fünfte westdeutsche IM in der Politik unterwegs, in der Wirtschaft dagegen doppelt so viele.

Wie groß der Einfluss der West-Agenten der Stasi tatsächlich war, ist umstritten. Müller-Enbergs glaubt nicht, dass man von einer unterwanderten Republik sprechen kann, wie es Hubertus Knabe in seinem Buch tat. Allerdings hatte die Stasi 1988 angeblich 32 Quellen im Bundeskanzleramt. Eine der besten West-Quellen der Stasi war wohl Hans-Adolf Kanter, zeitweise Leiter der politischen Stabsstelle des Flick-Konzerns. Als „IM Fichtel“ reichte Kanter zum Beispiel eine Analyse des Bundeskanzleramtes zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen weiter.

Die meisten West-Spitzel der Stasi arbeiteten in der Wirtschaftsspionage. Sie schafften Papiere aus Atomwissenschaft, Chemie, Biologie und Medizin über die Grenze. Ein Ingenieur aus Hannover, „IM Ems“, lieferte zum Beispiel zahlreiche Infos aus der Rüstungsforschung. Das Wissen wurde an militärische Institute in der DDR, aber auch an den KGB weitergegeben. Die West-Spione arbeiteten auch in den Bereichen Mikroelektronik und Elektrotechnik, im Fahrzeug- und Maschinenbau, in der Raketentechnik, in Industrie- und Wirtschaftsverbänden oder bei Banken. Hinzu kamen die West-Firmen von Alexander Schalck-Golodkowski. Schalck war Staatssekretär für Außenhandel und Offizier im besonderen Einsatz. Er arbeitete besonders stark mit dem Ministerium für Elektrotechnik und Elektronik zusammen, außerdem mit dem Computerreferat. All dies sollte den Rückstand der DDR-Wirtschaft verringern.

Was brachte die Spionage?

Doch was hat der DDR die Wirtschaftsspionage gebracht? „Können Geheimnisse in Produkte verwandelt werden?“, fragt Kristie Macrakis im Sammelband. Oberstes Ziel der Stasi-Spionage im Westen war der Wissenstransfer, um die schwache Ostwirtschaft zu stärken. Sobald die SED ihre Strategie änderte, änderten sich auch die Aufträge an die Spione. Ab 1958 sammelten die Agenten vor allem Infos in der chemischen Industrie, zum Beispiel zu Polyurethane und Nylon. Erfolgreich: Jahre später produzierte die DDR wie wild Plastikprodukte, darunter den Trabi. „Selbst Walter Ulbricht erhielt ein Plastiksofa vom MfS, um den Erfolg zu feiern“, schreibt Macrakis.

Später wurden Computer wichtig, was laut Macrakis 1977 zu einem „Mikroelektronikprogramm“ führte. Ab diesem Zeitpunkt warb die Stasi vermehrt Agenten in der Computerindustrie an.

Wirtschaftsspitzel saßen bei Siemens, IBM, AEG oder Krupp, aber auch bei kleineren Firmen. Zusätzlich kaufte die DDR über die Westfirmen von Schalck-Golodkowski Produkte, die eigentlich einem Embargo unterlagen. Nach 1989 gab es 274 strafrechtliche Ermittlungen gegen Agenten der Abteilung SWT, die für die wissenschaftlich-technische, wirtschaftliche und militärische Spionage zuständig war.

Die Agenten besorgten laut Macrakis wissenschaftliche Pläne, Firmeninformationen, manchmal sogar Prototypen. 184 Mitarbeiter werteten die vielen Infos zentral bei der Stasi aus. Die Stasi-Mitarbeiter arbeiteten eng mit den Ministerien und den Wirtschaftsbetrieben zusammen, sie gingen sogar auf wissenschaftliche Konferenzen. Die Stasi bekam von der Industrie zum Teil konkrete Wunschlisten, welche Produkte ausspioniert werden sollten.

Macrakis listet einige erfolgreiche Transfers vom Westen in den Osten auf. Eines ist das Klonen des IBM 360. Gemeinsam mit dem KGB beschafften die Stasi-Agenten ab 1968 neueste Computer. Im Osten bauten die Agenten die Computer auseinander und bauten sie nach. Seit 1973 produzierte das Robotron-Computerzentrum in Dresden knapp 100 Computer jährlich.

Wirtschaftsspionage kann Erfolg haben. Ein Beispiel ist die erfolgreiche Kopie der Atombombe durch die Sowjetunion. War die DDR ähnlich erfolgreich? Bedeutende Erfolge konnte die DDR-Spionage laut Macrakis am ehesten in der Computerindustrie feiern, aber selbst da blieb der Erfolg überschaubar.

Innovationen verhindert

Die Wirtschaft der DDR war schwach und rückständig, sie konnte die vielen Erkenntnisse aus dem Westen nicht verarbeiten. Statt die Bundesrepublik zu überholen, kam es meist nicht einmal dazu, dass die DDR den Rückstand verringerte. Die Menge des beschafften Materials war überwältigend. „Paradoxerweise schwächte letztlich jedes Dokument, das erfolgreich aus dem Osten geschmuggelt wurde, echte wissenschaftliche Innovationen im Osten und verstärkte die Abhängigkeit vom Westen“, schreibt Macrakis.

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