Das Leben des Spions

Auf Mission im Ruhrgebiet

Rund um Gelsenkirchen spionierte er jahrelang für die Stasi. Sich selbst sah er als James Bond. Während die Familie nichts ahnend auf ihn wartete, führte er jeden Stasi-Auftrag aus.

von Janis Brinkmann und Sola Hülsewig

Günter Hecht stinkt nach Schnaps und ist ein Vaterlandsverräter. Heute sagt er das mit einem schiefen Grinsen, aber damals, als die Sache mit der Stasi aufflog, haben ihn selbst alte Freunde beschimpft. „Dabei war ich doch nur ein ganz kleiner Fisch“, sagt Hecht. Die Formulierung verharmlost, was er getan hat: unter anderem flüchtige DDR-Bürger an die Stasi zu verpfeifen. Dafür bespitzelte er sogar seine Freunde.

Durch Zufall bekam Hecht mit, dass ein Bekannter einer befreundeten Familie aus Chemnitz (damals „Karl-Marx-Stadt“) bei der Flucht aus der DDR helfen wollte. 1881 war das. Hecht gab alle Informationen, die er bekommen konnte, an seine Auftraggeber im Osten weiter. Die Stasi hat daraufhin einen „operativen Vorgang“ über die Familie angelegt, soll heißen, Vater, Mutter und Sohn wurden intensiv beobachtet und befragt und die Ergebnisse penibel dokumentiert.

In den Stasi-Akten steht schließlich, ein Familienmitglied – vermutlich der Vater, ein Elektroinstallateur – sei „hops gegangen“. Die Person wurde also vermutlich von der Polizei festgenommen. Günter Hecht dagegen kassierte für solche Informationen mit „operativ bedeutsamer Aussage“ Prämien von mehreren hundert D-Mark.

Schnell, schneidig und gefährlich

Hecht – so wollte er damals heißen, weil das in der heißen Zeit des Kalten Krieges schnell, schneidig und gefährlich klang. Nicht nach dem Gabelstaplerfahrer aus Gelsenkirchen, seiner bürgerlichen Existenz. Der Deckname ist das einzige, was ihm geblieben ist, aus der dunklen Hälfte seines Doppellebens als Spion für die DDR. Der Deckname und ein Urteil vom Landgericht Düsseldorf.

Die Anklage liest sich wie ein Agentenroman: Geheimdiensttätigkeit für eine fremde Macht, Beschattung von Personen, Industriespionage im Ruhrgebiet. „Habe ich alles gemacht“, sagt Hecht und eine Spur von Stolz schwingt in seiner Stimme mit während er den nächsten Kümmerling köpft. Ob die Veba-Werke und der Hauptbahnhof in Essen, eine Aral-Tankstelle in Gelsenkirchen oder die Henrichshütte in Hattingen – Hecht sammelte Informationen, schoss Fotos und gab sie an seine Auftraggeber im Osten weiter: „Ich habe mir nie Gedanken gemacht, was die da drüben damit machen.“

Hecht wird angeworben

Mit „denen da drüben“ kam Hecht Anfang der Siebziger Jahre in Kontakt. Ein Zechkumpan aus dem Betriebsrat seiner Firma überredete ihn zu einer Reise nach Ostdeutschland – auf Einladung einer Jugendorganisation des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB). Was Hecht zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste: Der Zechkumpan arbeitete bereit als Inoffizieller Mitarbeiter „Michael“ für die Stasi.

An diesem Tag knüpfte die Stasi dann die ersten Verbindungen: Beim abendlichen Bier und in geselliger Runde sprach Hecht ein DDR-Gewerkschafter an, ob er nach seiner Rückkehr in die Bundesrepublik verschiedene kleine Aufträge annehmen könnte. „Erst sollte ich denen nur irgendwelche Bücher besorgen, nichts Wildes“, erinnert sich Hecht. Vermutlich wollte sein Verbindungsoffizier damit seine Loyalität und Einsatzbereitschaft testen.

Roland Jahn, Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen, über die Anwerbung von IM

Politisch sei Hecht dem Arbeiter- und Bauernstaat verbunden, glaubten die Genossen: Er sei seit 1970 in der Deutschen Kommunistischen Partei gewesen, steht in den Stasi-Akten, die über ihn angelegt wurden. Die Beamten schreiben weiter: „Durch eine fortschrittliche Erziehung im Elternhaus besitzt der IM einen für die Verhältnisse in der BRD positiven politischen Standpunkt. Er kann als klassenverbundener Arbeiter eingeschätzt werden.“

Neben der „politisch-ideologischen Überzeugung“ machte die Stasi aber auch „materielle Interessiertheit“ als Grund für Hechts Zusammenarbeit mit der Stasi aus. Schließlich übernahmen seine Auftraggeber sämtliche Geschäftskosten, wie zum Beispiel Anfang 1973 das Startkapital für einen Gebrauchtwagen-Handel in Höhe von 10.000 DM. Pro Quartal erhält Günter Hecht vom Ministerium für Staatssicherheit im Schnitt 2.000 DM für Garagenmiete, Kfz-Steuern und „Beobachtungen“. Dazu belohnt das MfS besondere Einsätze mit jeweils mehreren hundert DM, stattet ihren IM mit der nötigen Technik zum Fotografieren, beschatten und funken aus und zahlt Reisekosten und Verpflegung bei den Trips in die DDR.

"faschistische Blutrichter aufklären"

Und die Aufträge wurden bald größer: zunächst ging es zum Beispiel darum, „faschistische Blutrichter aufzuklären, die genauen Adressen und Arbeitsstellen festzustellen und von den Häusern auswertbare Fotos anzufertigen“ – so steht es in den Akten. Bespitzelt werden sollten ein leitender Staatsanwalt aus Essen, ein Oberstaatsanwalt aus Düsseldorf und ein Vorsteher des Finanzamtes Köln-Land.

Über die „Konspirative Fotografie“, also wie man am besten heimlich Objekte ablichten konnte, machte sich Hecht viele Gedanke. Sein Vorschlag, die Kamera in einer Steckuhr zu verbergen, die von Taubenzüchtern benutzt wird, wurde von seinen Auftraggebern positiv aufgenommen: „Nach seinen Darlegungen besteht durchaus die Möglichkeit ein solches Modell in die operative Arbeit einzubeziehen“, liest man in den Stasi-Protokollen.

1972 hielt er sich in Bereitschaft, um flüchtige DDR-Athleten von den Olympischen Spielen in München einzufangen: „Da habe ich jeden Morgen in einer Kirche in Gelsenkirchen gehockt und darauf gewartet, dass ein Kontaktmann kam und sagte: Jetzt ist einer abgehauen.“ Es kam aber nie jemand.

So, wie heute niemand mehr kommt. Hecht ist einsam, auch wenn er das selbst nie sagen würde. Er hat sich ein paar Hobbys gesucht. Seine ganze Familie hat er in bunten Farben auf Leinwände gemalt. Zumindest sagt er das. Ähnlichkeiten sind kaum zu erkennen. In seinem moderigen Keller stehen dazu noch ein paar Schiffsmodelle. Auf einem See fahren gelassen hat Hecht sie schon lange nicht mehr. Er kommt nur noch selten vor die Tür, ist lieber für sich – und säuft.

Intelligenz: durchschnittlich

Eine Ortsskizze, die Günter Hecht für die Stasi anfertigteEine Ortsskizze, die Günter Hecht für die Stasi anfertigte

Damals war das noch eine aufregende Zeit für Günter Hecht. Obwohl nur eine kleine Marionette, die das große Ganze weder verstand noch überblicken konnte, fühlte sich Hecht als mächtiger Strippenzieher. Als James Bond, unterwegs in geheimer Mission in Gelsenkirchen. Dieses Bild aufrecht zu halten waren beide Seiten bemüht – bei Gesprächen mit der Stasi musste stets eine streng geheime Parole benutzt werden. Auf die Frage „Können Sie mir ein Gehäuse für die Unterwasserfotografie anfertigen?“ folgte die Antwort: „Ja, wenn es sich um eine Robot-Kamera handelt.“

"Können Sie mir ein Gehäuse für die Unterwasserfotografie anfertigen?" "Ja, wenn es sich um eine Robot-Kamera handelt."

Die Stasi war mit Günter Hecht zufrieden. In einer internen Beurteilung des IM steht, er sei einsatzbereit, zuverlässig und ehrlich. Weiter heißt es: „Schwierigkeiten geht er nicht aus dem Wege und lässt sich durch diese nicht aus der Ruhe bringen, wobei er hierbei des Öfteren zur Selbstüberschätzung neigt.“ Ein negativer Aspekt sei lediglich, „dass er noch nicht immer in der Lage ist, eine Situation im Hinblick auf ihren operativen Gehalt einzuschätzen. Sein Intelligenzgrad kann als durchschnittlich eingeschätzt werden.“

Spitzeln für die Sache der Arbeiterklasse

Menschen wie Hecht passten perfekt in die Pläne der Stasi: Sie waren eifrig, stellten keine Fragen und berauschten sich an ihren eignen Machtvisionen. Das Gefühl, etwas Geheimes und Verbotenes zu tun, den Klassenfeind auszuspionieren – ohne dass selbst Freunde und Familie davon wussten – machte sie zu willigen Helfern der Staatssicherheit.

Zudem stand Hecht laut Stasi-Akten politisch auf Seiten der DDR und glaubte, das richtige zu tun. „Ich bin davon überzeugt, damit der Sache der Arbeiterklasse und des Sozialismus einen guten Dienst zu erweisen. Ich werde immer bemüht sein, durch meine Mitarbeit beizutragen, Agenten des Imperialismus zu entlarven, damit der Frieden erhalten wird“, schreibt Hecht in seiner Verpflichtungserklärung als inoffizieller Mitarbeiter.

Auszug aus der Verpflichtungserklärung Hechts für die Zusammenarbeit mit der StasiAuszug aus der Verpflichtungserklärung Hechts für die Zusammenarbeit mit der Stasi

In den Protokollen steht, er fühle sich nicht als Spion – schließlich tue er nichts unrechtes. Mehrmals soll Hecht laut Akten geäußert haben, das sozialistische Deutschland sei sein „wahres Vaterland“. Die Arbeiter würden in der BRD zugunsten der Eliten ausgenutzt und betrogen, fand er. In der DDR sei dies nicht so. Hechts proletarische Grundeinstellung ging so weit, dass sich Stasi-Verbindungsleute nicht überall mit ihm zeigen wollten – da er stets in Arbeitskleidung erschien und auf Tischmanieren keinen besonderen Wert legte, fanden die „Treffs“ öfter mal im Auto oder draußen statt.

Für den Lohn gab es Alkohol und Frauen

Welchen Schaden inoffizielle Spitzel wie Günter Hecht in der Bundesrepublik anrichteten, ist nicht abschließend geklärt. Sicher ist nur, dass die Stasi im Ruhrgebiet dutzende Männer wie ihn beschäftigte – meist einfache, arglose Arbeiter. Schlichte Gemüter, denen das eingebildete Agentenleben eine willkommene Flucht aus dem grauen Alltag bot. Die aber auch skrupellos genug waren, für einen kleinen Nervenkitzel die Grenzen der Legalität zu übertreten. Sie brachen in die Rathäuser im Ruhrgebiet ein, stahlen Pässe oder fotografierten politische Dokumente. Sie trugen einen Haufen an Informationen zusammen, wichtige und belanglose. Was ihre Verbindungsoffiziere mit dem Material machten, erfuhren sie nie. Manches mag nützlich für die DDR gewesen sein, echte Geheimnisse dürften auf diese Weise aber nur in den seltensten Fällen die Seiten gewechselt haben.

Das hielt Günter Hecht jedoch nicht davon ab, sich weiter in seine Rolle als Agent hineinzusteigern. In den folgenden Jahren dehnte er seine Spionagetätigkeiten weiter aus, reiste für die Übergaben oft mehrmals im Jahr in die DDR – immer getarnt als Betriebsratsreisen: „Die Grenzer kannten uns längst und grüßten immer freundlich.“

Mitte der 70er Jahre schlug er dann den Genossen vor, auch seinen kleinen Bruder zu „beschäftigen“. 1976 wurde dieser als IM „Norbert Zander“ bestätigt, von da an arbeiteten die Brüder bei fast allen Aufträgen Hand in Hand. Und während die Familie nichts ahnend in Gelsenkirchen auf die Rückkehr des Ehemanns und Vaters wartete, brachte der seinen Sold für Alkohol und Frauen durch: „Wir wurden ja in Ostmark bezahlt, davon konnten wir nichts mit rüber nehmen.“ Die Feiern waren exzessiv: „Da gab es kein Rotkäppchen, wir haben nur Krimsekt gesoffen. Da drüben war ich ein König.“

"Du arbeitest doch für die Stasi!"

Heute lebt Günter Hecht wenig königlich. In seinem Keller in Gelsenkirchen hat er sich sein eigenes Reich geschaffen. Hier hat er Ruhe vor der ungerechten Welt, vor den falschen Freunden und vor seiner Frau, „die eh immer meckert.“ Auf dem Boden steht der Schmutz, an den Wänden lagert haufenweise Schrott. Auf dem Tisch stapeln sich leere Schnapsfläschchen. Trank Hecht früher gerne in Gesellschaft, ist er im Herbst seines Lebens zum einsamen Trinker geworden. An die aufregenden Zeiten denkt er heute noch gern zurück: Damals war er noch wer. Damals war er wichtig, wurde gebraucht. Zumindest ist es einfacher, sich das einzureden als sich einzugestehen, von einer kriminellen Organisation als Kanonenfutter ausgenutzt worden zu sein.

Damals ging er in seiner Doppelrolle auf, auch wenn diese nicht allen verborgen blieb. Im Kollegenkreis gab es Gerüchte. Hecht reiste verdächtig oft in die DDR und prahlte nach seiner Rückkehr mit den wilden Saufgeschichten. Bei der abendlichen Kneipenrunde rief einer der Arbeitskollegen irgendwann: „Du arbeitest doch für die Stasi.“ Hecht reagierte geistesgegenwärtig und konterte: „Spinnst du denn, doch nicht für die Gurkentruppe. Ich arbeite doch für den KGB.“ Kurze Stille, dann befreites Lachen und die nächste Rutsche Bier.

"Du arbeitest doch für die Stasi." "Spinnst du denn, doch nicht für die Gurkentruppe. Ich arbeite doch für den KGB."

Vor den Kollegen abgeführt

Damit war das Thema vom Tisch und kam erst Jahre später wieder drauf. Da war die Mauer längst gefallen und Hecht lange kein aktiver Spion mehr. Die Polizisten kamen und verhafteten in direkt auf seiner Arbeitsstelle: „Die haben mich einfach vom Gabelstapler runtergeholt und direkt abgeführt – vor den Augen meiner Kollegen.“ Im anschließenden Prozess wurde Hecht als ehemaliger Stasi-Spion zu 15 Monaten auf Bewährung verurteilt.

Schuldig fühlte er sich nicht, nur zerknirscht, dass er irgendwann doch erwischt wurde. Und ärgern kann Hecht sich heute immer noch über das eine Stück Papier. Es ist der Zettel, auf dem er mit seinem bürgerlichen Namen bestätigt, von nun an als Günter Hecht für die DDR tätig zu sein. Es war seine Unterschrift, die alle anderen Unterlagen aus dem Nachlass der Stasi erst belastend werden ließ. Das fehlende Stück für die westdeutschen Ermittler, für die Hecht so von einem Namen zu einer konkreten Figur im Spiel der Stasi wurde. Hecht fragt sich noch heute: „Hätten die da drüben das nicht verbrennen können? Nie hätte es eine Verbindung zu mir gegeben. Keine Spur hätte zu mir geführt und die hätten mich nie erwischt.“

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